Mittwoch, 25. November 2015
112 Meter
112 Meter
Wie weit sind eigentlich 112 Meter?

Wie immer, um etwas zu Bewerten, muss man sich den Betrachtungswinkel vor Augen führen.

Für eine kleine Schnecke mit ihrem schweren Schneckenhaus, die auf der Flucht vor einem hungrigen Vogelschnabel ist, sind 112 Meter eine unerreichbare ferne Distanz. Hingegen eine Boing 747 auf diesen 112 Metern zu landen, mit Sicherheit ein wenig kurz. Somit wirken 112 Meter je nach Betrachter sehr Unterschiedlich. Auch die Ausrichtung der 112 Meter ist nicht immer gleich zu Bewältigen. 112 Meter Höhenunterschied können Freud beim Bergsteiger sein oder auch Leid, wenn eben dieser, die gerade mühsam mit viel Schweiß erklommenen 112 Meter wieder herunterfällt. Auch die Vorraussetzungen können entscheiden sein. Mit einem Tauchanzug und Schwimmflossen sind 112 Meter so schwierig zu bewältigen, wie der Versuch ein 82jährige Oma mit Rollator über 112 Meter matschigen Waldboden zu schicken.

Somit hängen 112 Meter für jeden individuell mit seinem momentanen Lebensumstand ab, in dem er sich befindet.

Martina - so nenne ich mal unsere junge Patientin - hatte gerade Ihre 112 Meter "erlaufen." Unendlich erschöpft und doch irgendwie glücklich. Ich konnte es in ihren Augen sehen, in ihrem Lächeln. Sie war Stolz auf sich. Stolz auf das was sie in den letzten Wochen ertragen und geleistet hat. Hoffnung und Zuversicht haben nach diesen 112 Metern extrem zugenommen. Und könnten ihr damit die nötige Kraft geben, für die Zeit die noch vor ihr lag.

Jung ist natürlich auch Betrachtungsache. Aber in unserem Fall und meinem Betrachtungswinkel ist 42 zu jung um Wochen auf einer Intensivstation zu verbringen.

Sie hat sich ihren Aufenthalt bei uns verdient, indem sie mit Ihrem Fahrrad gegen ein Auto kollidierte. Aus der Sichtweise von Martina war das Auto extrem schnell und risikoreich gefahren. Aus der Sichtweise des angetrunkenen Fahrers waren die 80Km/h und das rasante Überholen auf der Landstrasse "easy". Das war so "easy" das er auch gleich abgehauen war, als er Martina erwischte.

Martina hatte einiges abbekommen. Mehrfache Brüche, Prellungen und einen ordentlichen Schlag auf den Kopf.

Somit hatte sie Ihr Ticket für unsere Station gelöst. Für sie begann ab diesen Tag ein langer Weg. Viele Operationen gehörten nun zu ihrem Alltag. Eine Hirnblutung, die ausgeräumt wurde, Brüche die versorgt wurden. An einem Bein hat sich durch die Blutung und dem Bruch ein hoher Druck gebildet, so dass das Bein über lange Zeit immer wieder gespült werden musste und nicht sicher war, ob sie das Bein Behalten würde. Sie bekam mehrere Lungenentzündungen, Sepsis (Blutvergiftung), Nierenversagen. Wurde an unterschiedliche Geräte angeschlossen, die unterschiedliche Funktionen Ihres Körpers übernahmen. Jeden Tag wurde in Ihren Körper etwas hineingesteckt. Ein Darmrohr zu Abführen, eine Schlauch zum Ernähren (den sie sich immer wieder herauszog), eine Sonde zur Untersuchung, eine Nadel zum Katheterlegen, zum Absaugen des Lungensekrets und viele viele andere Dinge mehr. Oft schlief sie dabei oder stand unter Medikamenten die sie ein wenig von all dem Abschirmen sollten. Nachdem die erste schwierige Zeit überstanden war, setzten wir die Medikamente ab und sie kam so langsam wieder in die reale Welt zurück. Aus unserer Sichtweise ein Erfolg und aus ihrer, dass Bewusstsein, was alles mit Ihr passiert ist. Nach guten Tagen kamen immer wieder schlechte Tage. Tage die sie immer wieder zurückwarfen. Eine erneute Entzündung, ein erneuter Infekt. Und immer wieder musste Martina von vorne anfangen. Manchmal, wenn ich sie Betreute und ein wenig Zeit hatte mich mit Ihr zu Unterhalten, sprach sie viel von Ihrer Familie und wie glücklich sie war. Ich bewunderte Ihren starken Willen und die Kraft immer wieder aus dem Bett zu wollen. Aufzustehen und vorran zu gehen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Kraft hätte. Ich würde vielleicht meinen geschundenen, ruinierten Körper betrachten und den schuldigen Fahrer mit all meinen Hass und Wut überschütten und in Selbstmitleid versinken.

Martina dagegen schien das nicht zu tun. Wie es in Ihrem Innern aussah kann ich nicht sagen. Aber sie redete nie darüber und schien nie diese Wut oder Hass zu verspüren. Für sie war das JETZT wichtig und dass sie aus der Situation herauskommt. Ich bewunderte sie dafür!

Wir haben bei uns einen kleinen Balkon auf der Station, auf der wir sie an schönen Tagen - sofern die Zeit es zulies - mit Beatmungsgerät und allerlei Überwachungsgeräten hinfuhren. Sie sagte - als sie es dann mal konnte (mit einer Trachealkanüle kann man nicht reden) - dass sie eines Tage dorthin laufen wird.

Und jeden Tag arbeitete sie daran. Kleine Schritte nur. Aber Tag für Tag wurde es mehr.

Und dann, an einem etwas verregneten Tag - es war ein Sonntag- hat sie es tatsächlich geschafft.

Sie saß auf dem Balkon mit diesem breiten Grinsen und den strahlenden Augen. Über Wochen hingearbeitet und letztendlich geschafft.

Nachdem sie 3 Wochen später verstarb, habe ich nachgemessen. Es waren 112 Meter.

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